Betrachtet man die Münchner Brauereien-Landschaft, zeichnet sich ein relativ deutliches Bild rund um das Münchner Bier: Seit jeher teilen die sechs großen Brauereien Augustiner, Hacker-Pschorr, Hofbräu, Löwenbräu, Paulaner und Spaten die Zapfhähne der bayerischen Landeshauptstadt unter sich auf. Und das tun sie mit einer Regelmäßigkeit, die nur selten von anderen Marken unterbrochen scheint. Hin und wieder machen kleinere Start-ups, Craft-Beer-Enthusiasten und andere Brauer von sich reden und erobern sich mit einer kleinen Fanbase mühsam ein Stück des Tortendiagramms. Weit kommen sie darüber selten hinaus. Doch ein paar unbeugsame Akteure wollen sich damit nicht zufriedengeben.
Bleibt man beim Bild der Landschaft, drängen sich einem nahezu unweigerlich die ersten Seiten eines jeden Asterix-Comics auf: „Ganz München ist von den Traditionsbrauereien besetzt…“ Nun ja, nicht ganz. Den ebenso wie in den beliebten Bildergeschichten schicken sich auch hier ein paar sturköpfige Bayern an, der vorherrschenden Übermacht Paroli zu bieten. Eine Aufgabe die umso größer erscheint, sieht man sich an, mit wem sich die tapferen Bajuwaren hier anlegen.
Der Verein sagt, wo es lang geht
Der Verein Münchener Brauereien e.V. sieht sich selbst als ein Stück Münchner Tradition. Noch im Geiste der alten Zunftvereinigungen gegründet, übernahm er über viele Jahrzehnte soziale und karitative Aufgaben wie Versicherungsschutz und Hinterbliebenenversorgung für die Münchner Brauer. Mit seinem Gründungsjahr 1871 ist er der älteste noch bestehende eingetragene Verein Münchens. Als erster Zusammenschluss von – ursprünglich 17 – Brauereien markiert er zudem den Beginn des modernen Verbandswesens im Braugewerbe. Heute erfüllt er, nach eigenen Angaben, die Aufgaben einer eigenständigen und modernen Interessenvertretung. Neben rechtlichem Schutz kümmert sich der Verein um Pflege und Erhalt der Werte, Bräuche und Traditionen, die eng mit den Begriffen „Münchner Bier“ und „Oktoberfestbier“ verknüpft sind. Ein durchaus nobles Unterfangen möchte man meinen.
„Eben nicht“, meint Unternehmer und Brauer Dietrich Sailer. „Denn mit Tradition haben die Mitglieder des Vereins schon lange nichts mehr zu tun. Schaut man sich die Gesellschaftsstrukturen dieser Unternehmen an, sieht man, dass ein Großteil nurmehr dem Namen nach Münchner Unternehmen sind.“
Was ist echtes Münchner Bier?
Ganz unrecht hat er damit nicht, spricht er doch einen wunden und viel diskutierten Punkt an, an dem sich Münchner Stammtischrunden wohl allzu häufig abdiskutiert haben. Hacker-Pschorr Bräu ist Teil der Paulaner Brauerei Gruppe, die selbst zu 30 Prozent zu Heineken gehört. Löwenbräu gehört seit 1997 gemeinsam mit Spatenbräu der Spaten-Löwenbräu-Gruppe an, die wiederum zur Anheuser-Busch-InBev-Gruppe gehört. Die Brauerei Staatliches Hofbräuhaus in München (auch: Hofbräu München) ist ein Staatsbetrieb des Freistaates Bayern. Augustiner, die älteste der „großen Sechs“, ist zu 100 Prozent im privaten Besitz, unter anderem der Edith-Haberland-Stiftung (ca. 51 Prozent).
Geht man nach rein sachlichen Kriterien, ist schnell geklärt, was Münchner Bier ausmacht: Der Begriff ist eine seit 1998 geschützte geografische Angabe für Bier, das innerhalb der Stadtgrenzen der Stadt München mit Münchner Quellwasser gebraut wird. Aus er Sicht von Dietrich Sailer, hat das Schaffen der großen Brauereien aber nur noch wenig mit „Münchner Bier“ zu tun.
Eine Meinung über die sich streiten lässt. Unstrittig ist hingegen ist Sailers Expertise. Der 66-jährige ist ein alter Hase im Brauereigeschäft. Nicht nur war er 40 Jahre lang Gesellschafter im Hofbräuhaus Traunstein, auch ist und war er Wirt mehrerer Betriebe in und um München und hat sogar auf einer kleinen Insel im bayerischen Schliersee 2003 ein Wirtshaus gebaut.
Mit seinem neuesten Projekt möchte er Münchner Bier wieder zu einem Begriff für Traditionsbewusstsein und Werteverständnis machen. „Münchner Bier soll kein Massenprodukt sein. Bier ist ein handwerkliches Produkt. Es gehört in Münchner Hand, nicht nach Holland oder Belgien!“
Für sein Vorhaben hat er sich einen Namen mit langer Geschichte gesichert: Münchner Kindl Bräu. Die Brauerei wurde 1880 gegründet und 1905 von Unionsbräu übernommen. Die Unionsbrauerei ging wiederum 1921 in der Löwenbräu auf. Seit 2015 liegen die Namensrechte bei Dietrich Sailer, denn der Paulaner-Mutterkonzern AB-InBev InBev scheint im Kindl-Bräu kein Geschäftsmodell gesehen zu haben. Auf einem Grundstück im Münchner Osten will Sailer nun die alte Brauerei mit seinen Söhnen Leo und Luis wieder beleben. Der Rohbau auf dem 4.100 Quadratmeter großen Grundstück steht bereits. Ende 2024 soll hier das erste Bier aus echten Holzfässern fließen. Ausgefahren soll das Bier vom Chef persönlich werden – mit eigenen Brauereipferden. Die neue Heimstätte soll neben dem eigentlichen Brauerei-Betrieb mit Gaststätte und Getränkemarkt auch noch einiges mehr bieten.
Das Konzept ist als gläserne Brauerei angelegt. Zu Betriebszeiten kann selbständig und ohne Anmeldung der Brauprozess beobachtet werden. Gut platzierte QR-Codes ermöglichen via Smartphone ein virtuelle Führung auch außerhalb der Öffnungszeiten. In einem Klassenzimmer sollen außerdem Rohstoffkunde, die Prozesse der Malz- und Bierbereitung und Entstehung von unterschiedlichsten Aromen durch Malz, Hopfen und Hefe dargestellt werden. Eine historische Dampfmaschine soll in Verbindung mit der Kältemaschine zeigen, wie aus Wärme Kälte gemacht wird. Geplant ist auch ein Hopfengarten, bei dem eigenhändig Hopfen geerntet und später verarbeitet wird.
Das Münchner Kindl soll bei allem Ehrgeiz aber keine neue Großbrauerei werden. Gedacht ist an eine Jahresproduktion von 10.000 Hektolitern. Mit dem Rohbau sind schon die beiden wichtigsten Schritte für einer Münchner Brauerei gemacht. Denn nicht nur der Standort ist wichtig, auch der bereits gebohrte Brunnen erfüllt ein wichtiges Kriterium: Münchner Bier muss mit Münchner Wasser gebraut werden.
Wo Dietrich Sailer erst am Anfang seiner „Umsturz-Bemühungen“ steht, ist man nur wenige Kilometer entfernt schon um einiges weiter. Im gleiche Stadtteil Obergiesing steht das Stammhaus der Giesinger Brauerei. Deren Chef Steffen Marx ist zwar mit 45 Jahren um einiges jünger als Dietrich Sailer, doch die Geschichte seiner Brauerei ist schon rund 15 Jahre älter und somit ein paar Schritte weiter darin den „großen Sechs“ auf die Füße zu treten.
Von der Hinterhofgarage in die Oberliga
Die heutige Giesinger Biermanufaktur und Spezialitäten Braugesellschaftentstand in einer Garage. Dort braute der gebürtiger Thüringer zunächst eigenwillige Kreationen, wie Frucht- und Gewürzbiere. Die steigende Nachfrage führte dazu, dass auch klassische Biere wie Helles und Weißbier angeboten wurden.
2007 wurden ca. 300 Hektoliter Bier produziert, 2009 waren es schon 750 Hektoliter. 2011 wurde erstmals die Grenze von 1.000 Hektoliter überschritten. Damit stießen die Kapazitäten in den bisherigen Räumlichkeiten aber endgültig an ihre Grenzen. Ein neuer Standort musste her. Doch der wollte auch finanziert werden. Um das Budget aufzutreiben, bediente sich Marx einer Methode, die nicht nur die Finanzierung sicherstellte, sondern auch den Grundstein für eine einzigartige und treue Fangemeinde bildet: Crowdfunding.
Die erste Kampagne finanzierte den Produktionsstandort in Giesing: 733.850 Euro von 1.035 Investoren. Zwei weitere Kampagnen machten die Anschaffung eines neuen Stehausschanks und eines Biertrucks möglich: Für beide Projekte stellte die „Crowd“, wie Marx seine Fanbase liebevoll nennt, fast 200.000 Euro zur Verfügung. Die vierte Kampagne brachte fast 1,2 Millionen Euro für eine neue Abfüllanlage. Ihre Dividende erhielten die Aktionäre in Form von Bier- oder Genußgutscheinen. Durch diesen Zug machte Marx seine Kunden nicht nur zu Investoren sondern auch zu Markenbotschaftern. „Das war ein deutschlandweiter Rekord für Crowdfunding im Bereich Lebensmittel. Damit hat niemand gerechnet“, freut sich Marx noch heute. „Die Leute freuen sich mit uns über den Erfolg und feiern das.“
Wie man aus Investoren Fans macht
Am neuen Standort unweit der alten Garage war ab 2014 eine Kapazität von rund 12.000 Hektolitern pro Jahr möglich. Mit einer modernen Brauanlage, angeschlossener Brauereiwirtschaft und Hofverkauf wurde die Brauerei ein großer sozialer Anziehungspunkt. Mittlerweile zählten mehr als 1.100 regionalen Getränkehändler und mehr als 60 Gaststätten, Bars und Restaurants Biere zu den Kunden. Um der steigenden Nachfrage gerecht zu werden, wurden Ende 2017 Pläne für einen kompletten Neubau eines zusätzlichen Brauerei-Standortes gefasst. 2020 wurde schließlich im Norden von München das „Werk 2“ eröffnet. Hier können in der ersten Ausbaustufe mehr als 20.000 Hektoliter Bier pro Jahr produziert werden.
Noch viel wichtiger ist jedoch ein Meilenstein, mit dem sich Marx quasi in die Oberliga braute. Nach der erteilten Genehmigung wurde hier ein Tiefenbrunnen gebohrt, der Giesinger nun offiziell das Prädikat „Münchner Bier“ verleiht.
Doch die Mitgliedschaft im Verein der Münchner Brauereien geht damit keineswegs automatisch einher. Denn ebenso wie Dietrich Sailer ist Steffen Marx in München dafür bekannt kein Leisetreter zu sein. Auch er strebt nichts weniger als eine kleine Revolution auf dem Münchner Biermarkt an. Seiner Meinung nach, ist es längst Zeit die Vorherrschaft der „großen Sechs“ in Frage zu stellen. Auf die Frage, ob es denn in München neue Brauereien brauche, entgegnet er grinsend: „Ja gerne! Und zwar so viele wie möglich!“ Bis das Ziel der Renaissance des Münchner Biers vollends erreicht ist, mag es noch etwas dauern, bis dahin wollen ambitionierte Brauer wie Sailer und Marx aber zumindest zwei Dinge tun: gutes Bier brauen und dabei gerne etwas „unbequem“ sein.
Mehr zum Thema Bier
Mehr rund um das Thema Bier finden Sie in der neuesten Ausgabe der TRINKtime
Quelle: B&L Medien / Florian Harbeck