Das Team von Supp_optimal produziert Essen aus geretteten Lebensmitteln und gibt diese kostenfrei an bedürftige ab.
Quelle: Bürgerstiftung Stuttgart

Essen für alle – Das Konzept Supp_optimal

In Stuttgart entstehen im Projekt „Supp_optimal – Essen für alle“ der Bürgerstiftung Stuttgart regelmäßig aus geretteten Lebensmitteln vollwertige, kostenlose Mahlzeiten für Bedürftige. Die Essensausgaben sind zugleich wertvolle Begegnungsorte und bieten viele Möglichkeiten für ehrenamtliches Engagement.
Im April 2025 wurde das Konzept, das 2020 aus der Not heraus entstand, mit dem Ursula Hudson Preis von Slow Food ausgezeichnet. Was die Jury überzeugte: Die Initiative wirkt aus Slow-Food-Sicht in beispielhafter Weise gegen Ernährungsarmut und Lebensmittelverschwendung und setzt ein wichtiges Zeichen für eine nachhaltige, solidarische Gesellschaft.

„Ich verstehe die Vorbehalte gegenüber Lebensmittelrettung und Sorge anderer Gemeinschaftsverpfleger, gerade wegen Hygiene und Haftung. Aber vieles ist übertrieben. Denn mit etwas Kenntnis und gesundem Menschenverstand ist das Risiko überschaubar. Beispielsweise dürfen MHD-Produkte sehr wohl weiterverwendet werden – nur haftet dann nicht mehr der Hersteller, sondern der Händler. Viele trauen sich da nicht ran. Was wir brauchen, sind klarere Regeln und vor allem: eine Veränderung im Kopf.“

Johannes Nöldeke, Projektleiter Supp_optimal – Essen für alle

  • Wie wird Supp_optimal organisiert und finanziert?
  • Woher kommen die geretteten Lebensmittel?
  • Wie funktioniert die Speisenplanung?

Das und noch vieles mehr hat uns Projektleiter Johannes Nöldeke verraten, der Supp_optimal seit 2024 weiterentwickelt hat.

Das Projekt Supp_optimal gibt Essen für Bedürftige in Stuttgart aus.
Quelle: Bürgerstiftung Stuttgart

Herr Nöldeke, wann und warum ist „Supp_optimal – Essen für alle“ entstanden?

Das Projekt ist aus einer Notlage heraus entstanden: Ende 2020, mitten in der Corona-Krise, als viele soziale Einrichtungen und auch Essensausgaben in Stuttgart kurzfristig schließen mussten. Es entstand ein Vakuum – nicht nur in der Versorgung, sondern auch bei den Begegnungsorten. Wir haben dann als Bürgerstiftung schnell und pragmatisch einen Runden Tisch ins Leben gerufen. Daraus ist „Supp_optimal – Essen für alle“ entstanden: eine bedingungslose Essensausgabe für alle Menschen – ohne Bedürftigkeitsnachweis, ohne Kontrollen.

Woher kamen die Mahlzeiten in der Anfangszeit?

Anfangs haben wir noch nicht selbst gekocht, sondern die Mahlzeiten zugekauft von fünf verschiedenen Küchen, darunter auch zwei Inklusionsbetriebe. Die Gerichte wurden in Gläser abgefüllt und unter freiem Himmel verteilt – auf Abstand, wie es damals nötig war.
Unsere kleinste Ausgabe hat 50 Portionen, die größte über 120. Insgesamt geben wir an sechs Tagen in der Woche an sieben Standorten aus – also in der Regel rund 600 bis 700 Essen pro Woche.
Die Darreichungsform in 400-ml-Schraubgläsern haben wir beibehalten. Obwohl wir kein Pfand verlangen, kommen sie sehr zuverlässig zurück und werden wiederverwendet, nur die Deckel getauscht.

Was hat sich seitdem verändert?

Sehr viel. Wir haben das Projekt Supp_optimal kontinuierlich weiterentwickelt. Seit April 2024 kochen wir knapp die Hälfte der Essen selbst – aus geretteten Lebensmitteln. Wir kochen primär für unsere Essensausgaben, machen aber auch Caterings, Retter Lunches (s. Foto links) und Rescue Dinners (s. Foto rechts). Zudem machen wir in Kooperation mit Harrys Bude ein Bildungsprojekt für Kinder und Jugendliche.

Im letzten Jahr haben wir aus rund 5 Tonnen geretteten Lebensmitteln, mit 550 Engagierten, über 12.000 Portionen gekocht und ausgegeben. Dabei haben wir im Vergleich zur herkömmlichen Produktion durch die Vermeidung von Lebensmittelverschwendung rund 12,5 Tonnen CO2 eingespart.

Damit verbinden wir den ursprünglich sozialen Auftrag des Projekts nun mit einem ökologischen Anspruch. Gutes Essen für Alle – lecker, sättigend und auch noch gut fürs Klima.

Was genau zählt bei Ihnen als „gerettetes Lebensmittel“?

Das ist ganz unterschiedlich. Hinter jedem geretteten Lebensmittel steckt eine eigene Geschichte. Ob Schönheitsfehler, Fehler in der Produktion, veränderteres Verpackungsdesign oder überschrittenes Mindesthaltbarkeitsdatum. Alles nicht mehr unbedingt für den Handel brauchbar und deshalb aussortiert. Für uns jedoch perfekt.

Doch in Produktion, Verarbeitung und Handel entsteht etwa (nur) ein Viertel der Lebensmittelverschwendung. Die meiste Verschwendung – etwa 60 Prozent – geht auf das Konto der Privathaushalte. Deshalb ist es uns auch so wichtig, so viele Menschen wie möglich zu erreichen – z. B. in Corporate Volunteering Events: Hier machen wir Nachhaltigkeit erlebbar und ermutigen dazu, wieder kreativer, sorgsamer und im Urvertrauen auf die eigenen Sinne mit Lebensmitteln umzugehen.

Wie kommen Sie zu diesen Lebensmitteln?

Die meisten Lebensmittel holen wir direkt ab – das ist viel klassisches Türklinkenputzen. Wir pflegen Kontakte zu Händlern des Wochenmarkts und des Großmarkts, zur Tafel, zu regionalen Produzenten wie Albgold, Bürger, Seeberger, Bad Reichenhaller oder Hengstenberg. Harrys Bude ist ein wichtiger Partner: eine Freiwilligeninitiative des ehemaligen Obdachlosen Harry Pfau, der mit seinem Team mehrmals pro Woche Lebensmittel auf dem Wochenmarkt rettet und sie in ihrem Fairteiler kostenlos weitergibt. So erhalten wir hochwertige, oft regionale und saisonale Ware, da viele der Markthändler selbst Erzeuger sind. Ohne diese persönlichen Beziehungen würde es nicht gehen – vieles funktioniert über Vertrauen, Erfahrung und regelmäßige Präsenz.

Was überrascht Sie dabei am meisten?

Die Qualität. Viele denken, Lebensmittelrettung heißt: alte oder minderwertige Zutaten. Das Gegenteil ist oft der Fall. Wir kriegen richtig tolle Produkte – auch in Bio-Qualität, direkt vom Erzeuger.
Was viele nicht wissen: Wenn eine Kiste Bio-Gemüse eine einzige faulige Zucchini oder Obst mit einer Druckstelle enthält, wird sie auf dem Großmarkt aussortiert. Die ganze Kiste! Da sind wir oft fassungslos, dass derartige Top-Ware komplett entsorgt wird. Leider haben wir noch eine zu geringe Produktionskapazität, um das alles zu retten.

Wir bekommen auch manch Feinkostprodukt wie fermentierten schwarzen Knoblauch, oder exotische Lebensmittel wie Tamarillos – Baumtomaten – diese mussten wir selbst erst mal googeln. Ein Gast sagte dann später: „Die Schale hättet ihr weglassen sollen – die ist bitter.“ Im Nachhinein ein Glücksgriff, denn der Mann unterstützt uns jetzt in der Küche.

Wie viel Prozent Ihrer Lebensmittel sind denn wirklich gerettet?

Seitdem wir selbst kochen, sind wir bei einer Retterquote von rund 97 Prozent. Wir haben also kaum Bedarfslücken, außer bei Zucker und Reis, und kaufen in den seltensten Fällen etwas zu. Das geht nur mit Kreativität und Vertrauen in die Sinne. Das Mindesthaltbarkeitsdatum ist dabei oft kein Maßstab. Wir nutzen unsere Augen, Nase, Geschmack – und natürlich unsere Erfahrung.

Wie gelingt angesichts dieser „Wundertüte“ an Zutaten eine konkrete Speisenplanung?

Nur mit Kreativität und Spontanität! Unser gastronomischer Leiter erfährt quasi einen Tag vorher, welche Zutaten er zur Verfügung hat. Folglich entstehen die Rezepturen spontan in seinem Kopf, während wir alles einsammeln. Man muss lernen, das auszuhalten – aber es geht!

Für größere Caterings reichen wir daher sehr vage Speisenvorschläge ein, und bereiten auch Komponenten vor und frieren diese ein.

Welche Maßgabe haben Sie bei der Zusammenstellung?

Die Mahlzeiten im 400-ml-Schraubglas sind nach einem Baukastenprinzip aus geretteten Lebensmitteln zusammengesetzt.
Die Mahlzeiten im 400-ml-Schraubglas sind nach einem Baukastenprinzip aus geretteten Lebensmitteln zusammengesetzt. (Quelle: Bürgerstiftung Stuttgart)

Uns ist wichtig, immer ein leckeres, vollwertiges Gericht ausgeben zu können. Entsprechend arbeitet unser Küchenteam nach einem Baukastenprinzip:

-Jede Mahlzeit soll Kohlenhydrate (z. B. Nudeln, Reis, Kartoffeln)
– und Proteine (v.a. Hülsenfrüchte) enthalten,
– aber auch Gemüse und Obst.
– Je nach Verfügbarkeit oft auch Nüsse und Kräuter.

Wir kochen meistens vegetarisch, oft vegan. Fleisch verarbeiten wir bislang bewusst noch nicht – nicht nur aus Überzeugung, sondern weil wir angesichts der fünf Produktionsstätten derzeit keine passenden Lager- und Kühlmöglichkeiten haben. Das soll sich bald mit einer eigenen Küche ändern. Dann könnte es als Highlight auch mal einen Sonntagsbraten geben – sowohl vor Ort auf dem Teller, als auch bei unseren Ausgaben im Glas .

Oberste Prämisse bei der Zusammenstellung und Würzung ist, dass wir den Geschmack von möglichst jedem treffen, denn in erster Linie sollen unsere Gerichte satt machen.

Sie kochen derzeit noch verteilt auf fünf Küchen, was bedeutet das für die Logistik?

In erster Linie bedeutet das viel Aufwand: Die frischen Lebensmittel holen wir für jeden Einsatz in der Regel am Vortag ab. Am Morgen des Kocheinsatzes heißt es erstmal Kisten packen und schleppen: Das frische Obst und Gemüse, zusammen mit der Trockenware und der Hardware zum Kochen, muss in die Autos und in die Produktionsküche des Tages. Jedes Mal etwa mehr oder weniger schwere 15 Kisten.
In der Küche angekommen, wird aufgebaut und losgelegt.
Gegen 11.30 Uhr wird das frisch gekochte Essen in die Gläser gefüllt, und dann in den Thermoboxen zur Ausgabe gebracht, die meist gegen 12 Uhr stattfindet.
Wir haben da mittlerweile eine sehr eingespielte Logistik. Keine eigene Küche zu haben, bedeutet dann auch portionsgenau zu kochen. Denn Überschüsse einfach wegzufrieren oder am nächsten Tag zu verwerten, geht nicht so einfach. Nach dem Putzen muss dann alles wieder zurück in die Kisten und wieder in unserem „Lägerle“ verstaut werden – bis das ganze Spiel am nächsten Tag wieder von vorne losgeht.

Wie stemmen Sie das Ganze personell?

An normalen Tagen sind wir zwei bis drei Leute in der Küche – unser gastronomischer Leiter Julian Schaber, ein Beikoch und manchmal weitere Ehrenamtliche.

Social Day der Bürgerstiftung Stuttgart

Corporate Volunteering Event, hier mit Engagierten der LBBW Stuttgart. (Quelle: Bürgerstiftung Stuttgart)

Zunehmend kochen wir aber auch mit Gruppen mit bis zu 12 Leuten: Wir haben tolle Kooperationen mit hiesigen Unternehmen, die ihren Mitarbeitenden ein sinnvolles Engagement ermöglichen wollen. Das sind dann richtige Corporate Volunteering Events mit einer Mischung aus lebhaftem Team-Building, inspirierendem Kochkurs, erlebnisorientertem Lernen und sozial-ökologischem Engagement. An solchen Tagen stehe ich dann auch in der Küche und betreue unsere Gäste. Und die Leute helfen uns auch, noch besseres Essen zu kochen: Dann ist auch ein bisschen mehr Chi-Chi drin, wir können noch mehr Komponenten verarbeiten, sie hübsch schichten und mit feinen Toppings veredeln.

Welche Qualifikation bringt das Kernteam von Supp_optimal mit?

Wir sind vier Hauptamtliche. Julian Schaber ist unser gastronomischer Leiter – ein erfahrener Koch und Gastronom. Ich selbst bin für Engagementförderung, Kooperationen und Projektentwicklung zuständig. Dann haben wir zwei weitere Kolleginnen im Projektteam, die sich um das Management des ursprünglichen Projekts „Supp_optimal – Essen für Alle“ kümmern. So trennscharf wie das klingt ist es in der Realität aber nicht. Wir sind ein tolles Team und helfen uns gegenseitig.
Ergänzt wird das Team durch einen Beikoch, der selbst aus  dem Kreis unserer Gäste stammt und sein Leben lang schon in der Küche gestanden hat. Das läuft erstaunlich gut! Menschen sind zu erstaunlichen Dingen in der Lage, wenn man ihnen eine Chance gibt! Auch durch unsere wichtigste Kooperation – die zu Harrys Bude – kommen immer mal wieder Ehrenamtliche, die uns beim Retten, Kochen, Putzen und Ausgeben helfen.
Und auch zum Bildungsableger von Harrys Bude – Harrys Lab – haben wir eine Kooperation. Die Kolleginnen gehen in Schulen, Kitas und Jugendhäuser und stärken dort die sozial-ökologische Kompetenz von Kindern und Jugendlichen!

Neben Porsche werden Sie auch von der Kantine von Vector Informatik unterstützt…

Genau, jeden Dienstag kocht das Team der Cantine made by Traube Tonbach, der gastronomische Dienstleister bei Vector Informatik, die Mahlzeiten für unsere Ausgabe in Stuttgart-Wangen. Das ist initiiert und finanziert von der Vector Stiftung. Weitere Lieferanten von produzierten Mahlzeiten sind zwei Groß- und Inklusionsküchen: Das Rudolf-Sophien-Stift und die Neckartalwerkstätten die Schulkantine des Dillmann-Gymnasium und die Metzgerei Eisenmann.

Wie steht die Lebensmittelüberwachung dem Konzept gegenüber?

Das Stuttgarter Gesundheitsamt war von Anfang an eingebunden – schon beim ursprünglichen Konzept mit den Gläsern, aus hygienischen Gründen. Wir haben gemeinsam Abläufe definiert, Hygienekonzepte entwickelt, Schulungen organisiert. Die Verantwortlichen kennen alle unsere Küchen und begleiten unsere Entwicklung sehr konstruktiv. Gerade weil sie sehen, dass wir Menschen helfen, die sonst durchs Raster fallen.
Natürlich müssen wir die Standards einhalten und die freiwilligen Helfer schulen bzw. kurz hygienisch belehren, bekommen aber auch einen großen Vertrauensvorsprung.

Wie werden die Essen finanziert?

Aktuell ist das Projekt komplett spendenfinanziert. Die Porsche AG ist unser Hauptförderer, seit Projektbeginn. Unter anderem hat das Unternehmen die finanzielle Entlastung der Betriebsgastronomie durch die Mehrwertsteuerabsenkung zu unseren Gunsten eingesetzt.
Dazu kommen kleinere Stiftungen, Einzelspenden, Firmen und Freiwillige, die bei Social Days helfen. Die geretteten Lebensmittel sind alle gespendet.

Aber Spenden sind volatil. Auch deshalb gründen wir gerade eine gemeinnützige GmbH. So stellen wir unsere gemeinnützige Arbeit und unser sozial-ökologisches Engagement für die Zukunft nachhaltiger auf und können – zusätzlich zu unserem Spendenaufkommen – auch wirtschaftlich tragfähiger arbeiten. Dabei behalten wir das soziale Herzstück des Projekts im Blick.

Wie soll es konkret weitergehen?

Das jetzige Pop-Up-Konzept ohne eigene Küche bringt uns an unsere Grenzen. Wir sind schon seit geraumer Zeit auf der Suche nach einem eigenen Ort, an dem wir zentral lagern, kühlen und produzieren können. Und wir sind tatsächlich kürzlich fündig geworden. Bald soll ein Food Rescue Lokal entstehen. Von hier aus können wir noch mehr Lebensmittel retten, noch mehr „gutes Essen“ für unsere Ausgaben in der Stadt produzieren und noch mehr Menschen ins Engagement bringen. Und zudem können wir unser Angebot erweitern: Bislang haben wir die Essen ja hauptsächlich im öffentlichen Raum ausgegeben. In unserem Lokal soll es dann drei- bis viermal pro Woche einen Mittagstisch sowie vereinzelte Fine Dining Events geben. So wollen wir jährlich etwa 30.000 Portionen aus geretteten Lebensmitteln kochen und ausgeben.

Sie haben bereits erwähnt, dass es deutlich mehr Lebensmittel zu retten gäbe, als sie verarbeiten können…

Ja, leider! Klar ist: Wir können das Problem der Lebensmittelverschwendung nicht alleine lösen. Dafür ist das Problem viel zu groß. Das merken wir auch bei unseren Händlern und Erzeugern: Wir haben in Stuttgart lediglich zwei Wochenmärkte als feste Lieferquelle – aber es gibt 32. Die Märkte GmbH hat uns signalisiert, dass wir auch an weiteren Standorten retten könnten. Nur fehlt uns bislang die Kapazität. Von Erzeugern aus der Region bekommen wir auch immer wieder Angebote, größere Mengen zu retten. Manchmal müssen wir leider ablehnen, weil uns noch der Platz zum Kühlen und Lagern fehlt. Wir hoffen sehr, dass sich das bald ändert und wir unseren Beitrag zur Lösung des Problems verstärken können.

Was halten Sie von der häufigen Skepsis gegenüber Lebensmittelrettung – gerade von Seiten anderer Gemeinschaftsverpfleger?

Ich verstehe die Sorge, gerade wegen Hygiene und Haftung. Aber vieles ist übertrieben. Denn mit etwas Kenntnis und gesundem Menschenverstand ist das Risiko überschaubar. Beispielsweise dürfen MHD-Produkte sehr wohl weiterverwendet werden – nur haftet dann nicht mehr der Hersteller, sondern der Händler. Viele trauen sich da nicht ran.

Was wir brauchen, sind klarere Regeln und vor allem: eine Veränderung im Kopf. Essen ist eine Ressource, keine Ware wie jede andere. Bei unseren Essensausgaben sehen wir täglich, wie viele Menschen auch bei uns von (Ernährungs)Armut betroffen sind. Gleichzeitig wissen wir, wie viele Lebensmittel in der Tonne laden. Das ist klimaschädlich, teuer und ungerecht. Wer das einmal erlebt hat – sei es bei uns in der Küche oder bei der Ausgabe – sieht Lebensmittel anders.

Ist die deutsche Bürokratie eine Hürde?

Ich glaube, in diesem Fall wäre etwas mehr Bürokratie bzw. eine klare gesetzliche Regelung sogar von Vorteil. In Frankreich beispielsweise ist verboten, Lebensmittel wegzuwerfen. Lebensmittel, die aus den Regalen des LEH entfernt werden, müssen an wohltätige Organisationen weitergegeben werden. Das ist dort Gesetz.

Absurd dagegen ist das Mindesthaltbarkeitsdatum. Hier wird zwar schon viel Aufklärungsarbeit geleistet, dass MHD-Ware oft noch länger gut ist, aber das ist noch nicht in den Köpfen drin.
Und auch Obst und Gemüse, das allein von seiner Form nicht ganz der Norm entspricht, schmeckt genauso gut.

Man ist noch nicht sensibilisiert genug dafür, dass Lebensmittel eine wertvolle Ressource sind. Wahrscheinlich geht es uns dafür einfach viel zu gut. Und dass es auch bei uns vielen anderen Menschen viel schlechter geht, wird noch zu oft ausgeblendet. Ohnehin kommt die soziale Frage bei der Nachhaltigkeitsdiskussion zu kurz. Mit unserem sozial-ökologischen Engagement versuchen wir die Brücke zu schlagen zwischen Lebensmittelverschwendung auf der einen Seite und Ernährungsarmut auf der anderen Seite.

Sind ähnliche Konzepte in anderen Städten geplant?

Schon bevor wir angefangen haben, selbst für unser Projekt zu kochen, haben wir uns umgehört. Im ganzen Bundesgebiet gibt es eine wachsende Bewegung gegen Lebensmittelverschwendung – sei es bei den Tafeln oder bei Foodsharing. Doch es gibt nur sehr wenige Konzepte, die gerettete Lebensmittel regelmäßig weiterverarbeiten und verteilen. Eines davon ist Community Kitchen in München, die ihr Konzept inzwischen aber auch etwas eingedampft haben von der Zentralküche zum Café.

Wir selbst dürfen aufgrund unserer Struktur nur in Stuttgart aktiv werden. Hier sind wir mit den lokalen Akteuren vernetzt und versuchen uns gegenseitig zu unterstützen – z. B. gibt es hier das erste Foodsharing Café Deutschlands, die „Raupe Immersatt“. Doch trotz gemeinsamer Bemühungen kratzen wir auch hier nur an der Problemlösung. Unsere Aufgabe lautet deshalb: Anstiften zum Mitmachen.

Was wünschen Sie sich für die Zukunft?

Wir wünschen uns Nachahmer. Menschen, die sich trauen, neue Wege zu gehen. Kommunen, die unterstützen. Küchen, die sich öffnen. Und am Ende wünschen wir uns eigentlich, dass es uns nicht mehr braucht. Wenn wir keine Lebensmittel mehr retten müssen, weil nichts mehr verschwendet wird – und wenn jeder Mensch Zugang zu gutem Essen hat, dann war unsere Arbeit erfolgreich. Dann schaffen wir uns selbst ab. Das wäre das schönste Ziel.

Herzlichen Dank für das Gespräch!

Bislang durch Supp_optimal gerettete Lebensmittel (Auswahl)

  • 360 kg abgefüllte Nüsse und Trockenfrüchte von Seeberger, die versehentlich in zu große Gebinde abgefüllt wurden
  • 700 kg Nudeln als Rückstellproben der Mindesthaltbarkeitsprüfung von Alb-Gold (also alle mit überschrittenem MHD)
  • 2.100 Dosen stückige Bio-Tomaten in Konserven von Oro di Parma/ Hengstenberg mit kurzem MHD (ein halbes Jahr vor Ablauf MHD direkt aus der Produktion abgeholt, Überproduktion)
  • 50 kg Salz von Bad Reichenhaller (verändertes Verpackungsdesign)
  • Gewürze vom Frischeparadies (überschrittenes MHD)
  • Gebrochene Bohnen über Rebio aus regionaler Erzeugung (B-Ware, da im Verlaufe der Ernte und Säuberung gebrochen)
  • Raps- und Sonnenblumenöl von Heidereich (eine Raffinerie die verschiedene Öle herstellt, aber nur eine Maschinerie hat und beim Wechsel der Öle einen gewissen Durchlauf braucht, damit am Ende wieder reines Öl rauskommt; bei richtiger Deklaration könnte das Misch-Öl aber verkauft werden)
  • 600 kg Weißkohl von einer Hofaufgabe in Filderstadt
  • Obst und Gemüse mit Druckstellen oder nicht der Norm entsprechender Form (zu klein/ groß/ krumm/ dick/ dünn etc…)

Über Johannes Nöldeke

Der Sozialwissenschaftler Johannes Nöldeke wechselte Anfang 2024 zur Stuttgarter Bürgerstiftung, um das in 2020 gestartete Projekt „Supp_Optimal – Essen für alle“ weiterzuentwickeln. Seitdem werden die Speisen nur noch zur Hälfte zugekauft und zur Hälfte selbst produziert – zu über 96 Prozent aus geretteten Lebensmitteln.
Diese Lebensmittel über Kooperationen mit Händlern, Erzeugern und industriellen Produzenten zu organisieren, ist Aufgabe von Johannes Nöldeke als Projektleiter. Neben dem Netzwerk kümmert er sich auch um das ganze Infotainment, die Organisation von Events und die Kommunikation mit den Gästen.

Quelle: B&L MedienGesellschaft

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