Vom 29. September 2023 bis zum 14. Januar 2024 haben die 160 Mitglieder des Bürgerrats Ernährung, dem ersten Bürgerrat des Deutschen Bundestages, auf insgesamt sechs Online- und drei Präsenzsitzungen zum Thema „Ernährung im Wandel. Zwischen Privatangelegenheit und staatlichen Aufgaben“ diskutiert. Den Teilnehmenden sind u. a. ein kostenfreies Mittagessen für alle Kinder als Schlüssel für Bildungschancen und Gesundheit (1. Stelle) sowie eine gesunde, ausgewogene und angepasste Gemeinschaftsverpflegung in Krankenhäusern, Reha-, Senioren- und sonstigen Pflegeeinrichtungen (6. Stelle) wichtig.
Empfehlungen des Bürgerrates Ernährung
Die Empfehlungen wurden auf der Sitzung vom 12. bis zum 14. Januar 2024 in Berlin abgestimmt. Dabei wurde zunächst die Zustimmung (Ja/Nein/Enthaltung) abgefragt und anschließend unter allen Empfehlungen, die mindestens 50 Prozent Zustimmung der anwesenden Bürger erhalten haben, priorisiert. Entsprechend des Detailkonzeptes konnten die Teilnehmenden bis zu neun Empfehlungen aussprechen.
Bei jeder Empfehlung ist der Wert der Zustimmung (Ja/Nein/Enthaltung) sowie der Priorisierungswert (Durchschnittswert aller abgegebenen Stimmen von 1 – gar nicht wichtig bis 6 sehr wichtig) angegeben.
Schulverpflegung und Gemeinschaftsverpflegung sind Teil der Empfehlungen des Bürgerrates
Die neun am höchsten priorisierten Maßnahmen, denen mindestens die Hälfte des Bürgerrates zugestimmt hat, führt das Thema Schulverpflegung an. Die Empfehlung: Investition in die Zukunft: Kostenfreies Mittagessen für alle Kinder als Schlüssel für Bildungschancen und Gesundheit. 87,6 Prozent der Mitglieder stimmten für ja, lediglich 0,9 Prozent enthielten sich.
Die sechste Empfehlung betrifft die Gemeinschaftsverpflegung. Hier lautet die Empfehlung: gesunde, ausgewogene und angepasste Gemeinschaftsverpflegung in Krankenhäusern, Reha-, Senioren- und sonstigen Pflegeeinrichtungen. Während 84,1 Prozent der Mitglieder für ja stimmten, stimmten 11,5 Prozent für nein (Enthaltung: 4,4, Prozent).
Im Folgenden haben wir die Maßnahmen zu diesen zwei Empfehlungen sowie die Begründungen des Bürgerrates zusammengefasst:
Investition in die Zukunft: Kostenfreies Mittagessen für alle Kinder als Schlüssel für Bildungschancen und Gesundheit.
Maßnahme zur Schulverpflegung
Wir empfehlen, kostenfreies und gesundes Mittagessen bundesweit an Kitas und Schulen für alle Kinder und Jugendlichen täglich bereitzustellen.
Als Mindeststandard soll die Verpflegung an den DGE-Qualitätsstandards ausgerichtet sein. Der Einsatz von mindestens 30 Prozent ökologisch produzierten (Bio-)Lebensmitteln soll dauerhaft finanziell gefördert werden. Wünschenswert wäre, dass die Lebensmittel zusätzlich regional und saisonal (klimafreundlich) bezogen werden.
Die Maßnahme soll mindestens zur Hälfte vom Bund finanziert werden. Die Finanzierung der Maßnahme kann u. a. aus den Mitteln des Programms „Bildung und Teilhabe“ erfolgen, über das aktuell nur armutsgefährdete Kinder ein kostenfreies Mittagessen erhalten können.
Zusätzlich besteht die Möglichkeit, die Mittel für eine geplante Erhöhung des Kindergelds für das Programm umzuwidmen. Das heißt, anstatt das Kindergeld zu erhöhen, wird das dadurch eingesparte Budget für die Bereitstellung des kostenfreien Essens verwendet. Auch die Mittel bestehender Förderprogramme in den Ländern und Kommunen mit ähnlicher Zielsetzung sollen für dieses bundesweite Programm umgewidmet werden.
Die Maßnahme soll staffelweise spätestens innerhalb von acht Jahren für alle Altersgruppen umgesetzt werden, beginnend mit der jüngsten Altersstufe: zunächst in den Kitas, zwei Jahre später in den Grundschulen, zwei Jahre später in den Klassen der Sekundarstufe I und zwei Jahre später in den Klassen der Sekundarstufe II.
Auch die Lehrkräfte und Erzieher sollten in die Maßnahme eingeschlossen werden.
Die Begründung des Bürgerrates
Das kostenfreie und gesunde Mittagessen an Kitas und Schulen soll mehrere Ziele erreichen:
- Es soll eine gesunde Ernährung von Kindern fördern und einer Mangelernährung entgegenwirken. Denn gute Ernährung ist wichtig für die körperliche und geistige Entwicklung sowie das Wohlbefinden der Kinder – und
damit für ihren weiteren Lebensweg. - Es soll die Chancengleichheit zwischen den Kindern fördern. Denn gesundes Essen ist oft zu teuer für einkommensschwächere Familien. Die Maßnahme sollte sich jedoch nicht nur an einkommensschwache Haushalte richten, um die Kinder vor Stigmatisierung zu schützen und um die gemeinschaftliche Komponente zu fördern.
- Die Maßnahme entlastet Eltern bei der täglichen Bereitstellung des Essens für ihre Kinder.
- Essen an Schulen ist ein Beitrag zur Bildung, denn so lernen Kinder, was gute Ernährung ist. So können ihre zukünftigen Ernährungsmuster positiv geprägt werden. Besonders bei Kleinkindern ist dieses Potenzial, Ernährungsmuster zu beeinflussen, groß.
- Durch das gemeinsame Essen kann auch die soziale Entwicklung von Kindern gefördert und eine gemeinschaftliche Esskultur erlernt werden. Wenn die Lehrkräfte und Erzieherinnen und Erzieher am Essen teilnehmen und auch das gleiche Essen verzehren, erhöht sich die Akzeptanz. Außerdem ist die Aufsichtspflicht gewährleistet und es findet ein sozialer Austausch außerhalb des Unterrichts statt.
- Das allgemeine Gesundheitssystem wird kurzfristig und nachhaltig entlastet.
Gesunde, ausgewogene und angepasste Gemeinschaftsverpflegung in Krankenhäusern, Reha-, Senioren- und sonstigen Pflegeeinrichtungen
Maßnahme zur Gemeinschaftsverpflegung in Care-Betrieben
Wir empfehlen die Sicherstellung des Zugangs zu gesunder und ausgewogener Ernährung in Krankenhäusern, Reha-, Senioren- und sonstigen Pflegeeinrichtungen (nachfolgend Pflegeeinrichtungen) für alle. Dabei sollte die Ernährung an die individuellen Bedürfnisse unterschiedlicher Zielgruppen in den Pflegeeinrichtungen angepasst werden.
Dies beinhaltet:
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- Standardisierung der Ernährungsqualität: Alle Pflegeeinrichtungen werden verpflichtet, sich mindestens an die Qualitätsstandards der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) zu halten. Wo dies möglich ist, wird die Einhaltung durch den Medizinischen Dienst der Krankenkassen kontrolliert.
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- Verpflichtende Einführung der DGE-Standards in Qualitätsmanagementsystemen: Die Einführung der DGE-Qualitätsstandards in ein Qualitätsmanagementsystem soll in jeder Pflegeeinrichtung verpflichtend sein, damit deren Einhaltung durchgehend durch die Pflegeeinrichtung selbst kontrolliert und bei Bedarf nachgesteuert wird. Dabei werden die besonderen Bedürfnisse unterschiedlicher Pflegeeinrichtungen berücksichtigt. Mit der Aufnahme der Ernährung ins Qualitätsmanagement wird ein stärkeres Augenmerk auf das Thema Ernährung gelegt und die Transparenz der Kosten und Qualität von Ernährung in Pflegeeinrichtungen erhöht.
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- Finanzierungssicherheit: Der Bund soll die notwendigen gesetzlichen und finanziellen Rahmenbedingungen sicherstellen und bei Bedarf schaffen, um eine gesunde Ernährung nach den DGE-Qualitätsstandards in Pflegeeinrichtungen zu garantieren.
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- Erstens soll zu diesem Zweck eine einheitliche Untergrenze für Tagesausgaben für die Ernährung pro Klientin oder Klient in allen Pflegeeinrichtungen festgelegt und umgesetzt werden, damit die DGE-Qualitätsstandards eingehalten werden.
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- Zweitens soll die Sozialversicherung sicherstellen, dass die Kostendeckung durch die Leistungsträger erfolgt und die Ernährung ausreichend finanziert ist.
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- Drittens soll in allen Pflegeeinrichtungen der Anteil der Pflegesätze transparent gemacht werden, mit denen Verpflegung finanziert wird.
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- Viertens soll bei der Budgetierung in Krankenhäusern die Ernährung unter Gesundheitskosten und nicht unter sonstigen Kosten (wie z.B. Informationstechnologie) mitberücksichtigt werden. Durch die Entkopplung der Ernährungskosten von sonstigen Verwaltungskosten wird die zentrale Rolle der Ernährung für die Gesundheit betont.
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- Finanzierungssicherheit: Der Bund soll die notwendigen gesetzlichen und finanziellen Rahmenbedingungen sicherstellen und bei Bedarf schaffen, um eine gesunde Ernährung nach den DGE-Qualitätsstandards in Pflegeeinrichtungen zu garantieren.
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- Sofern dies möglich ist, soll die Einhaltung der DGE-Qualitätsstandards ohne die Bereitstellung von zusätzlichen Steuergeldern und höheren Kranken- und Pflegekassenbeiträgen umgesetzt werden. Andernfalls soll der Bundestag über die Bereitstellung von zusätzlichen Mitteln entscheiden.
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- Ausreichend Fachpersonal: Damit die DGE-Qualitätsstandards umgesetzt werden können, sorgt der Bund dafür, dass Pflegeeinrichtungen ausreichend qualifiziertes Personal anstellen, aus- und weiterbilden. Dies beinhaltet Ernährungsberaterinnen und -berater sowie das Pflege- und Küchenpersonal.
Die Begründung des Bürgerrates
Eine gesunde, ausgewogene, und individuellen Bedürfnissen angepasste Ernährung ist für ein umfassendes Wohlbefinden und eine schnelle Genesung im Krankheitsfall von entscheidender Bedeutung. Ernährung ist Gesundheit, denn Krankheiten sind vielfach ernährungsbedingt. Eine gesunde Ernährung hilft dabei, den Gesundheitszustand zu erhalten und zu verbessern. Essen soll genießbar sein.
Die Qualität der Ernährung in Pflegeeinrichtungen genügt diesen Anforderungen im Moment häufig nicht. Die Erfüllung der anerkannten DGE-Qualitätsstandards ermöglicht eine bedarfsorientierte und gesunde Ernährung in diesen verschiedenen Pflegeeinrichtungen. Dem Bund kommt bei der Sicherung der Ernährungsqualität in Pflegeeinrichtungen als Gesetzgeber und Geldgeber eine zentrale Rolle zu. Er soll durch geeignete Maßnahmen dafür sorgen, dass die Pflegeeinrichtungen die DGE-Qualitätsstandards erfüllen müssen und können.
Eine gute Ernährung ist uns so wichtig, dass für die Umsetzung der DGE-Qualitätsstandards auch die nötigen Finanzmittel zur Verfügung gestellt werden müssen. Die Finanzierung soll sozialverträglich und mit möglichst geringer Belastung der Steuerzahler sowie Klienten umgesetzt werden.
Bundestagspräsidentin Bärbel Bas dankte den Mitgliedern des Bürgerrates
„Demokratie geht uns alle an. Im Bürgerrat ‚Ernährung im Wandel‘ wurde Demokratie gelebt, in einem Klima von Offenheit, Neugier und Mut zum sachlichen Austausch. Ich danke allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern dafür, dass sie sich die Zeit genommen haben, sich tief in das Thema Ernährung einzuarbeiten. Durch ihre Empfehlungen haben sie wichtige Impulse für unsere parlamentarische Arbeit gegeben. Sehr konkrete Empfehlungen wie ein kostenfreies Mittagessen für alle Kinder oder eine Altersgrenze für Energydrinks sind nun auf dem Tisch, mit denen wir uns jetzt als Abgeordnete auseinandersetzen werden. Mit diesen Empfehlungen sollten sich alle Fraktionen im Deutschen Bundestag intensiv beschäftigen. Der erste Bürgerrat des Deutschen Bundestages ist ein gelungenes und innovatives Beispiel für lebendige Demokratie“, fasste Bundestagspräsidentin Bärbel Bas nach der Sitzung Mitte Januar zusammen.
Prof. Melanie Speck von der Hochschule Osnabrück, sagte stellvertretend für den wissenschaftlichen Beirat: „Das Experiment Bürgerrat ist gelungen. Der Prozess war so offen, dass der Querschnitt der Bevölkerung erfolgreich abgebildet wurde. Die Gespräche haben im Zeichen der Verständigung und nicht der Polarisierung stattgefunden. Der Bürgerrat ist ein Vorbild für diskussionsfreudige Demokratie. Die Bürger sind in kürzester Zeit zu Experten geworden. Das ist eine tolle Leistung.“
Hintergrund: Thema durch Bundestag festgelegt
Das Thema des Bürgerrates hatten die Abgeordneten festgelegt, unterschiedliche Themenvorschläge diskutiert und sich schließlich auf das Thema „Ernährung im Wandel: Zwischen Privatangelegenheit und staatlichen Aufgaben“ verständigt. SPD, Grüne, FDP und Linke hatten diesen Themenvorschlag als Antrag in den Bundestag eingebracht. Die Mehrheit der Abgeordneten hatte dem Antrag am 10. Mai 2023 zugestimmt.
Die Teilnehmenden des Bürgerrates waren bundesweit aus allen Einwohnern/-innen ab 16 Jahren ausgelost worden. Der Bürgerrat sollte die Vielfalt der Gesellschaft möglichst gut abbilden und auch die Stimmen sichtbar machen, die sonst in der politischen Diskussion weniger präsent sind. Dafür wurden die 160 Teilnehmende in einem mehrstufigen Verfahren per Zufallsauswahl ermittelt.
In einem ersten Schritt wurden 19.327 Personen zufällig über die Melderegister von 82 ausgelosten Gemeinden in ganz Deutschland ermittelt und angeschrieben. 2.220 davon bekundeten ihr Interesse an einer Teilnahme. Aus diesen Rückmeldungen wurden durch einen Computer-Algorithmus 1.000 mögliche Bürgerräte mit je 160 Teilnehmerinnen und Teilnehmern zusammengestellt, von denen Bundestagspräsidentin Bärbel Bas am 21. Juli 2023 einen ausgelost hat.
Quelle: Bürgerrat Ernährung des Deutschen Bundestages