Dr. Thomas Reiche hat uns so manch Anekdote rund um die Hygiene in Großküchen berichtet.
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Hygiene-Geschichten aus Großküchen

Dr. Thomas Reiche hatte beruflich über 40 Jahre theoretisch und praktisch mit Lebensmittelhygiene in Großküchen zu tun. Uns hat er exklusiv seine besten Anekdoten verraten.

Mit geübtem detektivischem Auge spürte Dr. med. vet. Thomas Reiche in seiner Zeit als Lebensmittel-Sachverständiger in der Lebensmittelüberwachung mit seinem Team von 1983 bis 2018 so manch hygienischen Mängel auf: Ob eingetrocknete Seifenspender, verklemmte Einmalhandtuchspender oder mit Wagen versperrte Handwaschbecken, die allesamt auf eine eher unregelmäßige Händehygiene schließen lassen oder das berühmte „Haar in der Suppe“.

Manche Geschichten, die sein Leben als Kontrolleur schrieb, sind durchaus zum Schmunzeln. Für die 75-Jahres-Ausgabe des GVMANAGER hat er uns an einigen dieser Anekdoten teilhaben lassen.
Darüber hinaus gibt er Einblick, wie manch lebensmittelhygienische Regel zustande kam, bei der Sie sich vielleicht auch schon gefragt haben, wer sich so etwas Seltsames hat einfallen lassen. Beispielsweise verrät er, warum ausgerechnet „Matterhornkartoffeln“ an der 3-Stunden-Warmhalteregel schuld sind.

Nachgefragt bei: Dr. Thomas Reiche

Dr. Thomas Reiche hatte beruflich über 40 Jahre theoretisch und praktisch mit Lebensmittelhygiene in Großküchen zu tun.
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„In einer Großküche lief mir bei meiner Kontrolle mal ein Mitarbeiter mit brennender Zigarette mitten in der Küche in die Arme. Sein Kommentar: Ist doch ungefährlich, die Asche ist doch frisch abgebrannt, also steril, oder?“

Dr. Thomas Reiche

Herr Reiche, als Lebensmittel-Sachverständiger haben Sie auch zahlreiche Küchenneubauten mit abgenommen. Da gab es doch sicher auch mal den einen oder anderen architektonischen Fauxpas, oder?

Ich habe tatsächlich Dinge gesehen, die in die Kategorie „Kaum zu glauben“ passen. Beispielsweise fielen mir in einer Küche bodennah niedrig installierte Steckdosen ins Auge, Standard ist mindestens doppelt so hoch!  Frage an den Bauleiter: „Wissen Sie, was passiert, wenn jemand den Putzeimer mit Wasser gegen diese Wand schüttet ?!“
In einer anderen Küche wurden Fleischvorbereitung und Gemüseputzraum auf die Schnelle frisch gekachelt. Sie strahlten in reinstem Weiß – nur: es gab keinen Lichtschalter mehr…

Meine zwei liebsten Anekdoten, gehen auf zwei designaffine Architekten zurück. Ein Architekt präsentierte stolz seine innovative Idee in puncto Wandbelag. Er hatte eine Gewebetapete anstelle üblicher Wandfliesen anbringen lassen mit der Begründung, dass so das Desinfektionsmittel vom Wandbelag aufgenommen würde und lange dort verbleibe, was den Einsatz von Desinfektionsmitteln deutlich verringern könne.

Ein anderer Planer hatte die Trennung zwischen reiner und unreiner Seite mittels der Bodenbeläge markieren wollen: Schwarz stand für den unreinen, weiß für den reinen Bereich. Ich stutzte in den Vorbereitungsräumen. Dort blickte ich auf eine Art Farbteilung, am Fenster bei den Arbeitstischen in schwarz, am Eingang in weiß. Der Planer war sich wohl nicht sicher, ob die Vorbereitungsräume alle unrein sind und hatte sich daher für eine Mischung entschieden.

Wann war ein architektonischer Mangel so schlimm, dass Sie die Küche nicht freigegeben haben?

Eine besonders kuriose Geschichte, bei der sich der Bauleiter sehr uneinsichtig zeigte: Ich betrat die Küche und blickte auf in der Mitte stehende, bewegliche Kochgeräte. Meine Frage: „Ist an den Installationswänden noch etwa zu erledigen?“ Die ernsthafte Antwort des Bauleiters: „Nein, das Gefälle ist falsch, weswegen die Bremsen die Geräte nicht in der Schräge am Platz halten. Aber das Wasser läuft gut in die Mitte.“ Die Lösung hatte nur einen kleinen Haken: Die Medienanschlüsse der Geräte befanden sich an der Wand und die Ablaufrinnen korrekt davor. Die Reaktion des Bauleiters: „Müssen wir deswegen wirklich den ganzen Boden neu machen? Das bekommen wir nicht nochmal so gut hin.“ Klare Sache, der Veterinär war schuld, die Küche konnte erst vier Wochen später in Betrieb gehen.

Wie stehen Sie zum Thema fehlende Kopfbedeckung?

Kochmützen sind meist nicht mehr „in“ und Haarnetze machen hässlich. Dem stimme ich zu, aber sie sollen ja auch keine modischen Accessoires sein. Sie werden allzu häufig auf den Hinterkopf verbannt, während vorne ein üppiger Pony frech herausschaut. Ich weiß nicht, wie oft ich das in meiner Laufbahn schon moniert habe, damit keine Haare sprichwörtlich in die Suppe fallen. Einmal war ich dann aber doch sprachlos, als eine Mitarbeiterin auf ihren Kollegen Karl zeigte und darauf bestand, dass er dieser Regel nach aber keine Kappe tragen müsse. Karl zog daraufhin grinsend die perfekt sitzende Kochmütze zum Gruß und zeigte seinen glatt rasierten Kopf.

Apropos Kopfbedeckung: Nicht nur diese wurde früher noch mit Stolz getragen. Auch das Grubentuch (Touchon) zählte standardmäßig zum Outfit. Es diente als Spritzschutz, zum Anfassen heißer Kochtöpfe und Pfannen und ja, es wurde auch immer mal zum raschen Abtrocknen der Hände benutzt. Heute frage ich mich oft, warum bei manchen Küchenhilfen eigentlich immer die oberen Rückseiten der Hosen schmutzig sind?

Was halten Sie von Silikonhandschuhen in Küchen?

Silikonhandschuhe trägt man heute wie eine zweite Haut – stundenlang, ohne zu merken wie schmutzig sie werden und was man alles damit anfasst und kontaminiert. Für mich sind sie daher eher eine mikrobiologische Gefahr und Instrument zur Allergenverschleppung. Noch dazu ruinieren sich viele Küchenkräfte so die eigene Haut.
In TV-Shows wird das andere Extrem vorgelebt: Fast alle arbeiten ohne Handschuhe, leider auch, ohne sich die Hände jemals zu waschen.

Sie waren viele Jahre Vorsitzender und Mitglied in zahlreichen lebensmittelhygienischen Arbeitskreisen des DIN und haben dabei auch heiß über manche Regel diskutiert. Verraten Sie uns, was die Empfehlung, Speisen maximal drei Stunden heiß zu halten kurioserweise mit Matterhornkartoffelnzu tun hat?

Die Geschichte, wie diese Empfehlung, die in den ersten Ausgaben der DIN 10506 Gemeinschaftsverpflegung Mitte der 1990iger angestoßen und niedergeschrieben wurde, ist tatsächlich skurril. Auf dem Weg zum nächsten Normungsausschuss bekam der damalige DIN Arbeitskreis-Vorsitzende von seinem Behördenleiter mit auf den Weg, er möge dafür sorgen, dass sich die Qualität der Kartoffeln verbessert. Denn der Chef ging immer erst gegen Ende der Ausgabezeit in die Kantine essen. Zu diesem Zeitpunkt waren die Salzkartoffeln meist ausgetrocknet und hatten weiße Ränder bekommen, von ihm Matterhornkartoffeln genannt. Nach Abwägung der technologischen und betrieblichen Erfordernisse für Transport und Ausgabe einigte man sich im DIN Arbeitskreis auf maximal drei Stunden Heißhalte- und Transportzeit.

1993 entstand auch die Anforderung, bei einer Temperatur von mind. 65°C warmzuhalten. Wie kam es dazu?

Gegarte Speisen müssen aus mikrobiologischer Sicht ausreichend heiß gehalten werden, damit die durch den Garprozess nicht abgetöteten Bakteriensporen nicht auskeimen und die Speise nicht wieder „mikrobiologisch unsicher“ werden kann. Das versteht jeder. Warum kam man damals aber ausgerechnet auf 65°C? Als die erste Norm dazu 1993 geschrieben wurde, orientierte man sich an den damals bekannten Vermehrungs- und Absterbemodellen für Bakterien und leitete den Wert von 65°C daraus ab, weil er mathematisch effektiv – also rein theoretisch – zu einem unbedenklichen Lebensmittel führte. Erst die von mir 2005 initiierten wissenschaftlichen Untersuchungen des BfR an tatsächlichen Lebensmitteln in bestätigten den Wert. Es dauerte also rund 20 Jahre, bis die Anforderung in Normen 10508 und 10506 bestätigt wurde. Temperaturvorgabe aufgrund der mikrobiologischen Gefahrenanalyse und Risikobewertung und die Zeitangabe als ein reines Qualitätsmerkmal stehen heute getrennt voneinander in den Normen.

Im Frühjahr 2022 ist die wissenschaftliche Grenze für das Heißhalten in den einschlägigen DIN-Normen urplötzlich aber auf 60°C herabgesetzt worden. Ihre Meinung dazu?

Das ist ein Grenzwert, den man in der Praxis nicht garantieren kann, schon gar nicht zu jeder Zeit und an allen Stellen der Speise. Frage eines Arbeitsmitgliedes (Küchenmeister) bei der Beratung: „Wie soll das denn gehen?“ Theorie trifft Praxis. Die 65°C Grenze ist immer noch die allen bekannte Temperatur für das Heißhalten in der Großküche. Um einen Sicherheitspuffer zur kritischen Temperaturgrenze von 60°C zu gewährleisten, heißt es nun: „In der Praxis hat sich ein Sicherheitszuschlag von 5°C bewährt.“ Um diesen Satz in die DIN mitaufzunehmen, habe ich zusammen mit Vertretern der Praxis lange gekämpft.

In Hygieneschulungen, die Sie ebenfalls machen, geht es oft um diese graue Theorie der Mikrobiologie, die auch viel mit Mathematik zu tun hat. Ein eher unbeliebtes Thema bei Köchen, oder?

Ja, aber dabei entstanden manchmal auch sehr spannende Schlussfolgerungen. Beispielsweise ergab sich einmal eine heiße Diskussion, ab welchem Gargrad Speisen hygienisch sicher seien. Denn es ist ein weit verbreiteter Irrtum, dass der Garprozess alle Keime sicher abtötet. Ich zeigte die Kurve der Vermehrung von verschiedenen Keimen, Stagnation und Absterberate. Es folgen Beispielberechnungen. Meine Frage in die Runde: Wann ist die Speise ihrer Meinung nach endgültig sicher, wenn die Absterberate nach einem Garprozess von 2 Min. bei 72°C erst bei 90 Prozent liegt? Man diskutierte über diverse Verlängerungen bisein offensichtlich gelangweilter Koch einwarf: „Wenn es verbrannt ist.“ Das ist unschlagbar logisch und richtig.

Zum Thema exponentielles Bakterienwachstum, das ich anhand von einem Schachbrett veranschaulichte, widersprach ein Teilnehmer: „Aber unsere Mettbrötchen sind gar nicht so groß, dass diese ganzen Bakterien da dann draufpassen würden!“ Sagt ein anderer Teilnehmer: „Kollege, die Bakterien sind so klein, da passen schon viele drauf – und bevor das richtig gefährlich wird, muss man das Mett halt aufessen.“ Darauf der andere: „Jetzt verstehe ich, warum die Weißwurst in Bayern immer nur vormittags gegessen werden soll!“

Dr. Thomas Reiche hat uns so manch Anekdote rund um die Hygiene in Großküchen berichtet.
Quelle: B&L MedienGesellschaft/Midjourney

Abschließend noch eine persönliche Frage: Haben Sie einen bestimmten Hygiene-Tick?

Ständiges Händewaschen – auch während dem (Hobby-)Kochen, wenn ich mit rohen tierischen Produkten arbeite. Danach werden alle benutzten Utensilien sofort gespült.

Herzlichen Dank für das Gespräch!

Über Dr. Thomas Reiche

Dr. med. vet. Thomas Reiche ist Fachtierarzt für Lebensmittelhygiene und Fachtierarzt für Öffentliches Veterinärwesen und war von 1983 bis 2018 als Lebensmittel-Sachverständiger tätig – vor Ort, in Behörden, Ministerien und zuletzt als Abteilungsleiter Veterinärmedizin bei der Bundeswehr. Darüber hinaus war er bis 2018 Mitglied und stv. Vorsitzender der Hygienekommission des Bundesinstitutes für Risikobewertung. In der DIN-Normung als Vorsitzender und Mitglied in zahlreichen lebensmittelhygienischen Arbeitskreisen wirkte er mit. Sein Wissen und seine Erfahrung hat er zudem sehr praxisbezogen und teils auch humorvoll in etablierten Fachpublikationen niedergeschrieben, z. B. im deutschen Standardwerk „Hygiene in Großküchen“. Praktikern sehr zu empfehlen sind seine Kommentare der wichtigsten lebensmittelhygienischen Normen, erschienen im Beuth-Verlag. Hier bricht er die oft sehr schwammig und wissenschaftlich formulierten Empfehlungen leicht verständlich auf die Praxis herunter.

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Welche Warmhaltetemperatur sollten Speisen haben?

Mehr zum Wirrwarr um 65°C vs. 60°C Heißhaltetemperatur, Chillen ausgehend von 60°C und die Regeneriertemperatur 72°C hat uns Jochen Mayer, Praktiker im DIN-AK AHV/Temperaturen, berichtet.

Quelle: B&L MedienGesellschaft

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