Digitalisierung wird für gastronomische Betriebe und solche der Gemeinschaftsgastronomie als „die“ Lösung in puncto Personalmangel angepriesen. Dabei reiche es nicht aus, schlicht auf Excel-Tabellen zu setzen, betont Markus Wessel, der im Gegenzug auch davor warnt, überstürzt einfach irgendetwas einzuführen. Tipps des gastronomischen Praktikers, der sich seit 2015 dem Thema Digitalisiserung der Branche widmet, wie man in einem gastronomischen Betrieb am besten loslegt – Teil 1 der Serie der Redaktion GVMANAGER.
„Eine große Hürde für Digitalisierung ist unsere Preissensibilität. Als Verantwortlicher entwickelt man meist eine Vorstellung davon, was ein Warenwirtschaftssystem kosten ‘darf’. Doch der Invest alleine ist ja noch lange nicht alles. Meist wird vergessen, Input und Output gegenüberzustellen um zu prüfen ob der Output größer ist.“
Markus Wessel
Herr Wessel, Digitalisierung ist ein großes Wort – und für manch einen schon der Umstieg auf eine Excel-Tabelle. Was verstehen Sie unter Digitalisierung im gastronomischen Betrieb?
Grundsätzlich ist auch eine Excel-Tabelle eine Form der Digitalisierung – vielleicht der erste von zehn Schritten, aber immerhin. Die Hemmschwelle bei Excel ist gering, weil viele damit umgehen können und es hilfreiche Vorlagen gibt. Nichtsdestotrotz gibt es heutzutage in vielen Bereichen wesentlich bessere Lösungen – die viele aber nicht kennen. Kein Wunder, ich schätze, es gibt derzeit etwa 500 digitale Lösungen für unsere Branche.
Ich habe früher als Betriebsleiter auch mit Excel-Tabellen gearbeitet, sie ausgedruckt, bin ins Kühlhaus gegangen, habe notiert, was wir nachbestellen müssen und dann im Büro alles manuell in die Excel-Liste übertragen. Dann habe ich es wieder ausgedruckt und gefaxt. Das war auch schon ein digitaler Prozess. Wenn ich das inzwischen per Tablet erledige, sind das nochmal zwei weitere digitale Schritte on top.
Ich bin der Meinung, wir sollten Digitalisierung als Werkzeug verstehen, mit dem wir viele Prozessschritte abbilden und uns Zeit sparen können. Denn Digitalisierung ist auch unabdingbar geworden, um sich wirtschaftlicher aufzustellen.
Gutes Stichwort: Machen Sie Digitalisierung mal schmackhaft mit wirtschaftlichen Fakten!
Hierzu gerne ein Erfahrungswert aus der Einführung eines HACCP-Managements: Die Mitarbeiter des Betriebs hatten vorher – in Summe – acht Stunden pro Tag für die Dokumentation aufgewendet, begonnen beim Zetteldrucken bis hin zum Nachtragen. Das konnten wir durch papierlose Dokumentation auf fünf Stunden reduzieren, macht fast 40 Prozent weniger Arbeitszeit.
Ein anderes beeindruckendes Beispiel ist für mich eine Foodwaste Cam, die mit KI, Waage und Kamera arbeitet. Diese habe ich einem Gastronomen empfohlen, der ca. 250 Essen pro Tag macht. Er spart knapp 800 Euro im Monat. Eine Krankenhausküche konnte nach Installation der Foodwaste Cam ihre zehn 120-Liter-Tonnen auf acht Stück reduzieren, weil sie 20 Prozent weniger Lebensmittelabfälle hatte. Durch das Tool stellten wir fest, dass die Portionsgrößen und auch Kalibrierungen einzelner Komponenten zu groß waren. So haben wir die Schnitzel deutlich verkleinert.
„Machen wir uns nichts vor: In Digitalisierung muss man viele Ressourcen – personell, zeitlich und finanziell – stecken, und der Output lässt erstmal auf sich warten.“
Markus Wessel
Welchen Tipp haben Sie, wo und wie eine strukturierte Digitalisierung starten kann?
Das ist je nach Betrieb ganz unterschiedlich. Die Fragen sind: Wie ist unser Status quo? Was nutzen wir bereits? Und vor allem: Wie steht das Team dazu – herrscht komplette Ablehnung oder gibt es erste positive Erfahrungen? Denn nicht nur der Verantwortliche muss digitalisieren wollen, es sind die Mitarbeiter, die es später leben müssen.
Angenommen, das Team hat sich bislang nicht mit Digitalisierung auseinandergesetzt. Wie geht es weiter?
Dann sucht man sich nicht gleich das Tool mit dem größten Impact, aber auch größten Aufwand, Stichwort Warenwirtschaftssystem, sondern eines, das einfach und schnell umzusetzen ist. Das ist enorm wichtig für die Motivation. Die Mitarbeiter sollen unmittelbar erleben, dass ihnen ein digitales Tool die Arbeit erleichtern kann. Bestehen erste positive Erfahrungen, kämpft sich das Team auch gerne durch ein aufwändigeres Projekt.
Was eignet sich für den schnellen Einstieg?
Eine Foodwaste-Cam beispielsweise, wie schon genannt. Und zwar eine solche, die einfach nur trackt, ohne dass ich noch irgendwas am Touchpanel machen muss. Die muss ich nur mieten – was zugegeben nicht billig ist – hinstellen und los geht’s. Die Mitarbeiter haben damit erstmal keinen zusätzlichen Aufwand und müssen auch keine Prozesse ändern. Nach etwa einem Monat Einlernzeit der KI kann man bereits erste Ergebnisse auswerten. Und erfahrungsgemäß können rund 20 Prozent Foodwaste und acht Prozent des Wareneinsatzes eingespart werden.
Ist es denn nicht sinnvoller, etwas zu digitalisieren, das man wirklich ‚braucht‘?
Natürlich! Die Grundsatzfrage lautet ja: Was wollen wir mit Digitalisierung erreichen? Das klingt banal, muss man aber tatsächlich erstmal sacken lassen. Und um das zu beantworten, sollte man lieber ein bisschen mehr Zeit investieren.
Denn, machen wir uns nichts vor, in Digitalisierung muss man viele Ressourcen – personell, zeitlich und finanziell – stecken, und der Output lässt erstmal auf sich warten. Daher empfehle ich vorab, lieber mal im Team die eine oder andere Frage mehr stellen, damit man die Richtung und die Prioritäten eingrenzen kann. Was wiederholt sich ständig? Was ist aktuell am notwendigsten? Wo habe ich gerade den größten Schmerz? Was hält uns am meisten auf? Vielleicht das HACCP-Management? Oder die Buchhaltung?
Das, was ich angehe, muss nicht der Prozess mit dem größten Output sein, wenn ich dadurch ein großes Problem im Team lösen kann.
Was sehen Sie als digitale Basics?
Da gibt es einen ganz großen Unterschied zwischen der Gastronomie und der Gemeinschaftsverpflegung. Bei Ersterer ist das Herzstück immer die Kasse, ergänzt um Funktionen wie Tischorder per QR-Code oder Zeiterfassung.
In einem Betriebsrestaurant kann im Frontbereich ebenfalls die Kasse ein zentrales System sein. Das Basissystem in der Gemeinschaftsgastronomie sind und waren schon immer Warenwirtschaftssysteme. Sie decken die komplette Wertschöpfungskette ab, von der Bestellung, über Lieferung mit Lieferschein und Rechnung, bis zur Rezepturerstellung inklusive zuverlässiger Produktspezifikation bis zur Inventur. Diese ganzen Prozessschritte im Warenmanagement können über ein System dargestellt werden. Nicht jeder Betrieb nutzt aber alle Funktionalitäten.
Speziell im Care-Bereich kommt als zentrales Element die Menüerfassung hinzu. Und diese sollte unbedingt mit dem Warenwirtschaftssystem verknüpft sein. Da gibt es – im Gegensatz zu früher – schon etliche, die kompatibel sind; darunter auch junge Anbieter, die finanziell recht attraktiv sind, was für kleinere Betriebe wie Seniorenheime interessant ist.
Neben der Ware sind die Mitarbeiter mein größter Kostenfaktor, weshalb auch hier digitale Unterstützung sinnvoll ist. Moderne Systeme können sehr effektive Funktionen mitbringen – gerade in puncto Mitarbeitermanagement, also Dienstplanung, Zeiterfassung, Mitarbeiterakte und darüber hinaus. Es gibt bereits clevere Systeme, die mithilfe einer künstlichen Intelligenz innerhalb von 30 Sekunden einen Dienstplan entwerfen.
Welche digitalen Tools sind für Sie die Kür?
Weil sie tatsächlich noch viel zu wenige nutzen, sind digitale HACCP- oder QM-Systeme für mich die Kür. Zwar läuft die Temperaturüberwachung schon oft digital, z. B. integriert in der Spülmaschine oder im Kühlhaus; aber die ganze Reinigungsdokumentation erfolgt noch mit Zettel, Stift und Kladde. Dabei ist das ganz einfach zu digitalisieren – man muss sich nur einmal hinsetzen.
Ein weiteres Tool, das keine Pflicht aber Kür wäre, ist die komponentenabhängige Produktionsplanung. Also, dass ich genau unterteile, wie viel Zeit beispielsweise die Produktion der Schnitzel, des Salats und der Desserts erfordert, und darauf dann die Personalplanung abstimme. Das erfordert anfangs gewisse Vorarbeit, bis alle Produkte, Gerichte und Komponenten eingepflegt sind. Aber unterm Strich kann ich so die Mitarbeiter effizienter einteilen.
Nice to have ist ein Tool, das die Inventur digitalisiert, indem sie den Wareneingang und die Produktionsmenge abgleicht. Manuell gezählt werden dann am Ende des Monats nur noch die wirklich teuren Produkte, die einen großen Einfluss auf die Inventur haben. So habe ich zwar kein 100%iges Ergebnis, aber ein 98%iges – und nebenbei richtig viel Zeit gespart.
Und das digitale i-Tüpfelchen ist für mich ein vernünftiges Controllingsystem, das alle BWA-relevanten Daten, wie Mitarbeiter-, Waren- und Sachkosten, Umsätze, BKTs usw. trackt und miteinander kombiniert. So bekomme ich mein Ergebnis nicht erst vielleicht Mitte des Folgemonats, sondern nahezu in Echtzeit. Gerade in der GV werden jeden Tag riesige Volumina bewegt, und je zeitnaher ich reagieren kann, umso wirtschaftlicher bin ich.
Wie aufwändig ist es all diese Zahlen in ein System zu bekommen?
Im Vergleich mit einem HACCP-Management ist der Aufwand natürlich viel größer. Dafür sollte man locker vier bis fünf Monate veranschlagen. Aber: Digitalisierung tut immer erst einmal weh, bevor sie schön wird. Und habe ich erstmal etwas automatisiert, kann ich tagtäglich davon profitieren.
Inwiefern sollte man die hausinterne IT bei der Digitalisierung einbeziehen?
Auf jeden Fall, und zwar so früh wie möglich. Die IT ist leider etwas negativ besetzt, weil sie in der Regel immer nur gerufen wird, wenn etwas nicht funktioniert.
Mit einer frühen Kooperation aus Betriebsleiter, hausinterner IT und mir als externem Berater habe ich jedoch in zwei Häusern sehr gute Erfahrungen gemacht. Die IT wusste genau, welche Rahmenbedingungen wir haben, was geht und was eben nicht. Das beginnt je bereits bei der Frage, wo überall Internet verfügbar ist und wird richtig komplex beim Thema Datenschutz, v. a. im Care-Bereich.
Daher kann ich es nur empfehlen, schon beim ersten Schritt die IT mit ins Boot zu holen, was auch ein Zeichen von Wertschätzung ist. Je nachdem, welches Tool ich implementiere, sollten auch Vertreter weiterer Abteilungen hinzugezogen werden, z. B. die Personalabteilung und den Betriebsrat, wenn es um das Mitarbeitermanagement geht. Denn die können solche Projekte später schnell zu Fall bringen, wenn sie nicht involviert waren.
Stichwort externer Berater: Wann kann ein solcher unterstützen und worauf sollte man bei der Suche achten?
Ich glaube, richtige Spezialisten für alles rund um die Digitalisierung unserer Branche gibt es nicht wirklich. Aber das Know-how wird immer mehr und immer besser. Will ich z. B. ein Kassensystem einführen, sollte sich der Berater entsprechend nicht nur mit zwei Systemen auskennen, sondern idealerweise über einen Marktüberblick verfügen. Dann kann er bei der Recherche nach dem passenden Tool als guter Sparringspartner fungieren. Hinzu kommt natürlich der externe Blickwinkel, der ganz neue Fragen mit sich bringen kann.
Bei der Umsetzung dagegen muss jemand aus dem Betrieb den Hut aufhaben.
Was sind die drei häufigsten Stolpersteine beim Thema Digitalisierung?
- 1. Zu schnell loszulegen. So besteht die Gefahr, das Falsche anzugehen, was zu großer Unzufriedenheit führt und das Gegenteil bewirkt: Denn man braucht umso länger, um sich dem Thema wieder zu öffnen.
- 2. Empfehlungen von Kollegen. Zwar ist es sinnvoll, sich diese anzuhören, aber man sollte sie niemals eins zu eins übernehmen. Denn was beim einen passt, muss nicht das Richtige für die Prozesse des anderen sein.
- 3. Unsere Preissensibilität. Als Verantwortlicher entwickelt man meist eine Vorstellung davon, was ein Warenwirtschaftssystem kosten „darf“. Doch der Invest alleine ist ja noch lange nicht alles. Meist wird vergessen, Input und Output gegenüberzustellen um zu prüfen ob der Output größer ist.
Herzlichen Dank für das Gespräch!
Über Markus Wessel
Der gelernte Koch und Betriebswirt bringt jahrelange praktische Erfahrung im Gastgewerbe, aber auch in der Gemeinschaftsgastronomie mit, sowohl am Herd als auch im mittleren und oberen Management mit großer Personal- und Budgetverantwortung. Folglich kennt er die verschiedenen Blickwinkel von Entscheidungsträgern, kann aber auch operativ denken und ist nah an der Praxis. Zur Digitalisierung kam Markus Wessel im Jahr 2015. Seitdem hat er sich sukzessive ins Thema eingearbeitet und gibt sein vielfältiges Wissen in einem Blog, Podcast, als Dozent, Referent oder externer Berater weiter. Sein Ziel: Die Gastronomie zukunftssicher und als Arbeitsplatz attraktiver zu gestalten.
Quelle: B&L MedienGesellschaft